Nahost: Alle haben Recht und alle haben Unrecht
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Israel and Palestine Peace, Wikimedia Commons, Westonmr |
Seit Tagen gibt es in meiner Facebook-Timeline kaum ein
anderes Thema als den Nahost-Konflikt. Eigentlich äußere ich mich zu
dem Thema in den sozialen Netzwerken/dem Internet nicht mehr, weil ich weiß, dass
ich mit jedem Post damit rechnen muss, eine hitzige Diskussion zu provozieren,
bei der sich Menschen, die ich jeweils sehr schätze, mindestens verbal
gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wer meint, das Thema Prostitution würde „zu
emotional“ geführt, der sollte es mit diesem Thema gar nicht erst versuchen.
Eine Reihe von Gründen haben mich bewogen nun doch etwas zu schreiben.
Eigentlich geht es mir in diesem Beitrag jedoch um das Geschehen in
Israel/Palästina selbst nur am Rande. Vielmehr bewegt mich die Debatte wie sie
geführt wird. Mir zerbricht es schier das Herz, wenn ich sehe, was wertvolle
Mitstreiter_innen zu diesem Thema posten und von sich geben. Menschen, mit
denen ich gemeinsam Naziaufmärsche blockiert oder generell Antifa / Antira-Arbeit
gemacht habe. Menschen, die sich mehr als einmal mit den diversen Formen
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beschäftigt haben. Die mehr als einmal
bewiesen haben, dass sie kritikfähig und aufgeschlossen guten Argumenten
gegenüber sind, die ihr Herz am richtigen Fleck haben. Menschen, die
WeggefährtInnen, die FreundInnen sind.
Die beste Freundschaft jedoch wird bei diesem Thema
schnell auf eine harte Probe gestellt. Verständnis, Zuhören, gepflegte
Diskussionskultur schlagen hier schneller in Häme, Feindseligkeit, Hass, um als
mensch gucken kann.
Was meine eigene Positionierung zu dem Konflikt angeht,
orientiere ich mich insbesondere an jenen Stimmen, die das Wohl sowohl der
israelischen, als auch der palästinensischen Bevölkerung im Blick haben. Die
nicht einseitig für eine Seite Position beziehen, sondern sich um eine
friedliche Koexistenz, ein Miteinander, statt einem Gegeneinander, bemühen.
Geprägt haben mich diesbezüglich einige langjährige Mitstreiter_innen und
AkteurInnen, die insbesondere aus der israelisch/jüdischen, aber auch aus der
palästinensischen Community kommen. Eine dieser Personen war Ruth-Maria
Oettinger, die langjährige Vorsitzende der Neve Hanna Kinderhilfe war, die in Kiryat
Gat (bei Rahat) ein Kinderheim für jüdische und muslimische Kinder betreibt und
mit dem „Pfad des Friedens“ ein weiteres Projekt dieser Art initiiert hat. Bei
Neve Hanna sitzen dieser Tage wieder jüdische und arabische Kinder gemeinsam im
Bunker und fürchten um ihr Leben. Ruth war zur ihrer Wiesbadener Zeit auch mit
mir gemeinsam im Wiesbadener Bündnis gegen Rechts aktiv, wo ich sie und ihre
Arbeit kennen- und schätzen gelernt habe. Auch ihre Beerdigung in dieser Woche hat
mich zu diesem Text motiviert, denn Neve Hanna ist nur ein beispielhaftes
Projekt von vielen.
Große Wertschätzung bringe ich dem israelischen
Friedensaktivisten und Begründer von Gush
Shalom und Aktivisten von Anarchists
against the wall, Uri Avnery, entgegen. Avnery ist in meinen Augen ein
gutes Beispiel, dass ein Aufeinander zugehen möglich ist. Er war zum Beispiel der
Erste, der 1982 einen Schritt auf die PalästinenserInnen zu machte und sich mit Arafat traf.
Natürlich haben diejenigen vollkommen Recht, die auf
antimuslimischen Rassismus in der israelischen Bevölkerung hinweisen. Exemplarisch
zwei Beispiele, die wirklich besorgniserregend sind, und wo ich die Empörung
vollkommen teile. Nehmen wir die (rechte) israelische Parlamentsabgeordnete
Ayelet Shaked, die zum Genozid an den Palästinenser_innen aufrief – und dafür
Tausende von Likes in den sozialen Netzwerken erhielt. Oder die Beliebtheit von
Gruppen in den sozialen Netzwerken, in denen die Bombardierung Gazas gefeiert ("bombing of Gaza children gives me orgasm") wird und einem Rassismus in seiner ekelhaftesten Form entgegenschlägt. Auch aus
antideutschen Kreisen wird auf Facebook eine ganze Reihe wirklich geschmackloses
Zeug gepostet. Genau so empört mich aber auch, wenn auf einer
Solidaritätskundgebung für Palästina Linke und LINKE Seite an Seite mit
Nationalen Sozialisten demonstrieren, wie in Frankfurt geschehen, wenn auf
einer anderen solchen Demo „Juden ins Gas“ skandiert wird, oder wenn aus linken
Kreisen an Transparenten wie „1 Netanyahu = 100 Hitler“ kein Anstoß genommen
wird. Kritik an israelischer Politik muss nicht antisemitisch sein, ist sie
aber oft. Und die Toleranz gegenüber schockierenden Aussagen ist teilweise in
linken Kreisen doch erschreckend hoch.
Genauso gut wie ich verstehen kann, dass Menschen das
Existenzrecht Israels mit Händen und Füssen verteidigen und zu Recht fordern,
dass jüdische Mitmenschen, nach der Schoah einen Ort brauchen, an dem sie
sicher sind, und dass es nicht akzeptabel ist, wenn sie in ihrem eigenen Staat
(oder wo auch immer sonst) Angst um ihr Leben haben müssen, genauso gut kann
ich jene verstehen, die sich für die Rechte und Unversehrtheit der
PalästinenserInnen einsetzen und nicht müde werden zu Recht darauf
hinzuweisen, dass bei der Gründung des Staates Israel dieses Land nicht leer
war, sondern dass das palästinensische Volk vertrieben und entrechtet wurde und
wird.
Uri Avnery bekräftigte vor einiger Zeit seine Auffassung,
dass Kritik an Israel nicht nur erlaubt ist, sondern sogar notwendig. Hier ein
längeres Zitat:
„Die
deutsche Berichterstattung über Israel ist ein Skandal. Es ist eine fälschliche
Auslegung von der Pflicht, die Deutsche nach dem Holocaust haben. Diese vulgäre
Ansicht, dass Deutsche nach dem Holocaust Israel nicht kritisieren dürfen, ist
für mich ein verdrehter Antisemitismus. Ich habe immer den Eindruck, dass
Philosemiten und Antisemiten sehr viel gemeinsam haben. Ich finde die
Sonderbehandlung Israels in den deutschen Medien absolut falsch, unmoralisch.
Wenn man israelische Politik nicht kritisiert, bezieht man Stellung gegen einen
Teil von Israel. Wir haben eine Diskussion in Israel, wir sind eine
demokratische Gesellschaft. Wir haben ein großes Friedenslager. Ich glaube, die
Mehrheit der Israelis ist heute für einen Frieden, gegen die Politik der
israelischen Regierungen, und für die Aufgabe der Siedlungen. Davon findet man
in Deutschland kein Wort. […] Während des Zweiten Libanonkrieges machten wir
vom ersten Tag Anti-Kriegsdemonstrationen, am Ende des Krieges mit 10.000
Teilnehmern im Zentrum von Tel Aviv. Kein Wort davon in den deutschen Medien.
Das ärgert mich sehr.“ (Quelle)
Dies deckt sich mit den Berichten eines befreundeten
Universitätsprofessors, Mitglied der jüdischen Gemeinde, der regelmäßig
semesterweise in Israel lehrt und zum einen entsetzt ist über den stetig
steigenden Rassismus, aber den zahlreichen NGOS und politischen Zirkeln
(inklusive einer Tageszeitung), die sich in ihrem politischen Gegenengagement
nicht kleinkriegen lassen, große Bewunderung und Hochachtung entgegenbringt.
Was ich immer wieder feststelle in den harten
Auseinandersetzungen um das Thema: Ich verstehe viele Argumente und Beweggründe
auf beiden Seiten, aber ich verzweifle an der allumfassenden Parteinahme für
jeweils eine Seite. Als gäbe es in Israel und Palästina jeweils nur einen
Einheitsbrei von Meinungen, mit dem man sich 100% identifizieren müsste – je
nachdem welchem Lager man sich zurechnet.
Was LINKE und Linke hierzulande und deren Lagerbildung in
der Diskussion angeht, kann ich das Ganze nur zusammenfassen mit: „Alle haben
Recht. Und alle haben Unrecht.“ (danke an UP dafür) Beide „Lager“ bringen
wichtige Aspekte und richtige Kritik am jeweilig anderen Lager ein.
Was mir fehlt ist die Thematisierung der Mitverantwortung
von Kräften von außen. Sei es beispielsweise finanzieller Art durch die USA an
Israel oder durch Waffenlieferungen aus Deutschland nach Israel (und auch die
Hamas sind bestens mit schwäbischen Sturmgewehren von Heckler und Koch
ausgestattet). Auch hier lässt sich wie so oft feststellen: „Deutsche Waffen,
deutsches Geld, morden mit in aller Welt.“
Was mir auch fehlt, ist der Bezug auf progressive Kräfte
in Israel/Palästina, die an einer Lösung für alle interessiert sind. Was mir
fehlt, ist das Eintreten für eine Lösung, die allen gerecht wird.
Ich will, dass jene Stimmen mehr Platz in den deutschen
Medien erhalten, die als Wegweiser dienen, dass ein friedliches Miteinander
möglich ist. Warum werden beispielsweise solch symbolträchtige Bilder wie vom
gemeinsamen Fastenbrechen von hunderten Juden und Muslimen am Dienstag nicht in
den sozialen Netzwerken geteilt?
Wie wertvoll ist eine Botschaft des Palästinensers Sheikh
Haj Ibrahim Abu El-Hawa, einem Mitbegründer der „Jerusalem Peacemakers“: „Die
neue Generation muss die Botschaft verbreiten wie wir zusammen leben können,
denn wir wurden nicht geboren mit diesem Zeichen über unseren Köpfen, dass wir
jüdisch, muslimisch, christlich oder buddhistisch sind – wir sind eins“
Es gibt zahlreiche solcher Stimmen – man muss sie aber
mühsam suchen. Warum tun wir das nicht. Warum fragen wir nicht sie nach
Interviews? Warum laden wir nicht sie zu
Veranstaltungen ein? Warum senden wir nicht positive Bilder um die Welt?
Wer mir vorwirft, dass ich feige sei oder keine Haltung
habe, weil ich mich nicht auf eine Seite stelle, dem möchte ich ebenfalls mit
Uri Avnery entgegnen:
„Kein Mensch auf der Welt braucht
zwischen Israel und Palästina zu wählen. Man kann - und soll - für beide sein.
Die wahren Interessen Israels und Palästinas stehen nicht im Widerspruch, denn
beide Völker brauchen Frieden. Die Eskalation der Gewalt und die gegenseitigen
Gräueltaten, die täglich begangen werden, können uns alle ins Unglück stürzen.
Um zu einer vernünftigen Lösung zurückzukommen, brauchen wir, Israelis und
Palästinenser, die Unterstützung Europas, auch Deutschlands, für eine Politik
der Versöhnung und des Ausgleichs. Wer eine der beiden Seiten, Israel oder
Palästina, einseitig und bedingungslos unterstützt, hilft keinem.“ (Quelle)
Als Antinationalistin widerstrebt
es mir eigentlich zutiefst der Vielzahl von Nationalstaaten weitere
hinzuzufügen, denn eigentlich möchte ich alle überwinden. Deshalb stand ich
einer Zwei-Staaten-Lösung lange Zeit sehr skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Wenn aber eine Mehrheit der Palästinenser und eine Mehrheit der Israelis sich eine
solche Lösung wünschen, und auch die dortigen Friedensbewegungen sie für den
richtigen Weg halten, dann sollten wir diese Forderung bedingungslos
unterstützen.
Für die Debatte hierzulande würde ich mir wünschen, dass die
sonst so reflektierten Menschen, mit denen ich gerne und gut zusammenarbeite,
diese Stärke auch bei diesem Thema einzusetzen lernen, dass es mehr Versuche
gibt die Argumente des jeweiligen Gegenüber zu verstehen und anzunehmen, und
eine Diskussion zu dieser Thematik nicht unweigerlich im gegenseitigen Hass und
Chaos endet.
Hinweis: Heute abend um 20 Uhr findet in Tel Aviv erneut eine Friedensdemo von Gush Shalom statt. Mal sehen ob diesmal darüber berichtet wird in den deutschen Medien?