Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit des Individuums im Neoliberalismus
Essay zu einem Vortrag bei Res Publica Politica in Alf / Mosel zum Thema Macht im Mai 2015
Im nachfolgenden Beitrag geht es um eine Anwendung der
Gouvernementalitätstheorie von Michel Foucault auf zeitgenössische Phänomene. Anhand seines
Machtverständnisses soll aufgezeigt werden, wie Individuen im Neoliberalismus zum einen durch Staat und
Gesellschaft gelenkt werden und welche Selbsttechnologien andererseits zum Einsatz kommen.
Daran anschließend ergibt sich die Frage, wie selbstbestimmt sie Entscheidungen treffen können
und wie frei Entscheidungen im Neoliberalismus sein können.
Foucaults Machtbegriff
Während Max Weber von einem sehr formalistischen
Machtbegriff ausging und Machtausübung als eine ungleiche Beziehung zwischen zwei Machtausübendem und
Unterlegenem definierte, geht Foucault von sehr komplexen Machtstrukturen aus: Menschen
sind in dynamische Netzwerke (Dispositive) eingebunden, die seiner Meinung nach sowohl
repressiv als auch produktiv wirken können. „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt,
wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen
Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht." Als Regierung
bezeichnet er die "Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der
Verwaltung bis zur Erziehung". So muss es gar keine unmittelbare Machtausübung geben, sondern es
reicht, gewisse Wahrscheinlichkeiten zu schaffen und die Lenkung von Individuen mit deren
Selbstführung zu verknüpfen. Wenn es dem Machthabenden gelingt, seine Willensaufzwingung möglichst
unsichtbar zu machen, sie in sanftere Formen zu gießen und sie durch Kontrolle, Gesetz und die Monopolisierung
von Gewalt berechenbar erscheinen zu lassen, dann spricht Foucault von einer
stabilen Sozialstruktur mit integrierten Zwangselementen. Wenn nicht einmal die Akteure eines
Einflusses auszumachen sind und die Machtausübung sogar von Institutionen als Subjekten der
Machtausübung losgekoppelt ist und "alle Ritzen und Winkel des sozialen Lebens durchdrungen hat"
ist die reine Sozialstruktur erreicht.
Die governmentality studies, die auf Foucaults Vorlesung am
Collège de France 1977/1978 Bezug nehmen, sehen Neoliberalismus nicht nur als eine
ideologische Rhetorik oder eine politökonomische Realität an, sondern als ein politisches Projekt, das darauf
abzielt, eine bestimmte soziale Realität herzustellen. Die häufig angenommene Trennung von Staat und
Ökonomie ist in der Praxis nicht haltbar, beide sind miteinander eng verwoben. Eine zentrale
These der govermentality studies lautet, dass um Menschen ökonomisch auszubeuten, zunächst ihre
Körper politisch besetzt werden müssen und Arbeitskraft als Arbeitskraft konstituiert werden muss.
Selbsttechnologien
Das Handeln von Individuen kann auf einer Skala zwischen
direktem und unmittelbarem Zwang auf der einen Seite und impliziter Zustimmung – Konsens – eingeordnet werden. Konsens bedeutet erst einmal nicht mehr, als dass dem Handeln einer anderen Person/anderer Personen vom Gegenüber Legitimität zugeschrieben wird. Dies bedeutet jedoch noch
nicht, dass es sich um eine freiwillige Handlung handelt, die auch ohne das Vorliegen eines Machtverhältnisses von der betroffenen Person ausgeführt worden wäre, denn: Für Foucault müssen auch
konsensuelle Handlungen, Zustimmung und Einverständnis jeweils in Bezug auf Machtverhältnisse
untersucht werden.
Einen besonderen Fokus legt Foucault auf so genannte
Selbsttechnologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden können. Die grundsätzliche Logik dahinter
ist die, dass bestimmte Handlungsoptionen gefördert werden, was früher oder später
dazu führt, auch einen spezifischen Gebrauch von diesen Optionen, oder auch „Freiheiten“, zu
machen. So wird aus einer Freiheit eine Entscheidungszumutung, bzw. ein faktischer Zwang zum
Handeln. Wenn aber die Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens und einer freien
Entscheidung erscheinen, bedeutet dies auch, dass sich die Individuen auch die möglichen und tatsächlichen
Folgen ihres Handelns selbst zurechnen müssen. Für Regierungen bietet dies große Vorteile: Warum
sollte es nötig sein, individuelle Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken, wenn
es doch „ökonomischer“ ist, politische Ziele mittels „individueller
Selbstverwirklichung“ realisieren zu lassen? Entscheidend für den Erfolg solcher Selbsttechnologien ist es eine „autonome“
Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild durchzusetzen und dass das Leben an ökonomische
Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausgerichtet wird (was nicht nur auf Individuen
beschränkt ist). Wie dies gelingt soll im Folgenden an zwei Fallbeispielen aufgezeigt werden.
Fallbeispiel I: Die Agenda 2010 und die Konstituierung von
Armut als selbstverschuldetem Problem
Zunächst bietet sich eine historische Betrachtung an: In
früheren Zeiten waren Individuen gegen Risiken wie Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit durch
persönliche Netzwerke wie die Familie oder die Sippe abgesichert.
Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Karl Marx in
seinem kommunistischen Manifest zwar eine brillante soziologische Gegenwartsanalyse seiner Zeit
vorgelegt hat, jedoch in der Prognose der Zukunft (Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie durch
den Klassenkampf) danebenlag. Man weiß jedoch nicht, ob er ohne die Einführung der
Sozialversicherung, die als „Absicherung gegen Revolutionen“ konzipiert wurde, vielleicht doch Recht
behalten hätte. Mit der Bismarck`schen Sozialversicherung wurde eine Art Klassenkompromiss zwischen
Herrschenden und Beherrschten geschlossen. Kennzeichen des neuen Wohlfahrtsstaates war die
Tatsache, dass den Individuen zwar persönliche Verantwortung für ihr Handeln zugestanden wurde,
die jeweilige individuelle Verantwortung jedoch immer auch im Kontext äußerer
Rahmenbedingungen betrachtet wurde, beispielsweise den Vor- und Nachteilen, die sich aus der
Familienherkunft, der Klassenzugehörigkeit oder den lebensgeschichtlichen Umständen herleiten ließen.
Staatliche Unterstützung war hier bereits sehr eng an Erwerbsarbeit gekoppelt: Die Armenfürsorge war
so angelegt, dass sie nicht als attraktive Alternative zur Lohnarbeit wahrgenommen wurde.
Kennzeichnendes Merkmal war die Solidarität zwischen "Risikoungleichen": Während sich die
Versicherungsprämie am Einkommen oder Vermögen orientierte (nicht am Risiko), war für die
Versicherungsleistung die Bedürftigkeit maßgeblich (nicht die gezahlte Prämie).
Mit der Agenda 2010 wurden die Probleme sozialer
Ungleichheit wieder zurück in den Verantwortungsbereich der Betroffenen verlagert. Die Annahme
lautet, dass sie durch aktives Handeln der Individuen abgewendet werden können. Diese werden
deshalb verpflichtet, selbst aktive Zukunftssicherung zu betreiben. Auf der ökonomischen Ebene
wurde der Boden bereitet für eine riesige Risikoindustrie, durch die mit Marketingstrategien
bewusst Zukunftsängste geschürt werden: Es werden immer neue Probleme konstruiert und Lösungen
gleich mitgeliefert. Wer nicht vorsorgt, dem werden Schuldgefühle vermittelt, zu wenig
Eigeninitiative zur Absicherung vor drohenden Schicksalsschlägen zu zeigen oder bei tatsächlichem
Eintreten gezeigt zu haben. Beispiele sind die private Krankenversicherung oder private
Rentenversicherungsangebote. Gesellschaftlich wird es als zunehmend „ungerecht“ empfunden, sich solidarisch mit jenen
zu zeigen, die ihr Schicksal selbst verschuldet haben. Das Individuum hat eine Bringschuld, sich
darum zu bemühen, den Schaden für andere zu minimieren und jedeR EinzelneR gilt nun als
Risikofaktor des anderen. Daraus entwickelt sich eine paternalistische Sorge darüber wie der/die
Einzelne sein/ihr Leben führt. Aus der kollektiven Solidarität wurde so die Aktivierung und Anrufung von
Arbeitslosen und Sozialhilfeberechtigten als aktive BürgerInnen und aus der kollektiven, solidaritätsbasierten
Armutsbekämpfung eine Armutsbekämpfung durch Selbstsorge.
Im Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen von
1998 hieß es unter anderem: „Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen Staat.
Deshalb werden wir die Bürokratie abbauen und den Staat zum Partner der Bürgerinnen und Bürger machen.
Leitbild ist der aktivierende Staat. […] Wo Bürgerinnen und Bürger gesellschaftliche Aufgaben in
Eigeninitiative und gesellschaftlichem Engagement lösen soll der Staat sich
nicht an ihre Stelle setzen, sondern sie unterstützen“
Die rot-grüne Koalition suggerierte mit diesen Aussagen ein
Durchbrechen der Machthierarchien. Aus
Regierenden und Regierten sollten PartnerInnen auf Augenhöhe
werden. In der Folge traten und treten gemeinnützige Initiativen
ebenso wie private und profitorientierte Organisationen an die Stelle wohlfahrtsstaatlicher
Institutionen und eine riesige „Fortbildungsindustrie“ macht, finanziert durch öffentliche
Zuschüsse, die Menschen "fit für den Arbeitsmarkt". Durch „Empowerment“ sollen diese in
ihrer Eigenaktivität unterstützt werden.
Die Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
formulierte unter anderem als Zielsetzung: „Dem Arbeitslosen werden Wahl- und Handlungsoptionen
dargestellt, die ihn befähigen, Entscheidungen über seine Beschäftigungsperspektiven zu
treffen. Die angebotenen Dienstleistungen setzen ihn in die Lage, selbst im Sinne des
Integrationszieles tätig zu werden“
Im Zuge der Agenda 2010 wurde Armut zu einem „Verhalten“
umgedeutet, welches jeweils in der Verantwortung der Individuen liegt. Arbeit gilt hierbei als
Schlüssel des Armutsproblems. Dabei werden die eigentlichen Ursachen von Armut nicht strukturell
analysiert, sondern als Produkt der Fehlleistung einzelner, denen es am Willen zur Arbeit
mangele. Denn: Wer individuell über die Mittel verfügt, Armut zu vermeiden, ist für ihr Eintreten jeweils
selbst verantwortlich. Das alte Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ passt sehr gut in diesen
Zusammenhang. Der Umkehrschluss lautet jedoch, dass jedeR der/die scheitert sich dies als
persönliches Versagen anrechnen lassen muss. Am Ende stehen dann Aussagen wie die des damaligen
Bundesarbeitsministers Franz Müntefering „Nur wer arbeitet, soll auch essen“. Wer sich nicht selbst um
Arbeit kümmert, wird in Arbeit oder Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“) vermittelt. Jede
Arbeit gilt nun als zumutbar.
Was dabei verschwiegen wird: Für eine hohe
Beschäftigungsquote ist eine hohe Übereinstimmung von Arbeitsnachfrage und -angebot Voraussetzung. Mit der Agenda
2010 richtet man sich jedoch ausschließlich auf die Nachfrageseite und fordert die
marktoptimale Anpassung der ArbeitnehmerInnen. Wenn jedoch auf rund 500.000 offene Stellen (Jahresdurchschnitt 2015) insgesamt 2,9 Millionen Menschen ohne Beschäftigung kommen
(unter Einbeziehung der verdeckten Arbeitslosigkeit sogar 3,75 Millionen), dann bedeutet dies
automatisch, dass sich 4,26 Millionen Menschen individuell anstrengen können wie sie wollen - sie
werden dennoch keine Anstellung finden. Oder sie werden beispielsweise in prekäre, selbstständige
Tätigkeiten getrieben, wie ich am nächsten Fallbeispiel zeigen möchte.
Empowerment - oder: die „Politik der Härte“
Wolfgang Fach argumentiert, dass im Neoliberalismus die
Communites eine "Politik der Härte" generieren und Empowerment-Strategien zutiefst neoliberal
sind.
Er beschreibt, wie die persönlichen Netzwerke, in denen
jedes Individuum eingebunden ist (Familien, Schulen, Gemeinden, Nachbarschaften, ...), normierend,
formierend und kontrollierend auf dieses einwirken und entscheidend sind für die Wirksamkeit der
„Führung der Führungen“, also die Selbsttechnologien der Einzelnen. Er nennt sie deshalb die
„block captains“ eines harten Lebens.
Die betroffenen Individuen tun sich schwer damit, ihre
aktive (Selbst-)Kolonialisierung zu erkennen. Durch das Netzwerk, in dem sie sich befinden, wird der
Systemcharakter verschleiert und am Ende geht "selbstbestimmtes" Verhalten in
rollengerechtem Verhalten auf.
Empowerment-Strategien sind systemstabilisierend, weil sie
das System nicht in Frage stellen, sondern das Individuum fit machen wollen, in diesem zurecht
zu kommen oder in ihm überleben zu können. Überleben wird umdefiniert in „gutes Leben“ und
Erfolg und Wohlergehen werden zu einer Frage des Kopfes: Man soll einfach gut finden, was man
macht. Wenn sich die Schwachen (oder Machtunterlegenen) stark (oder mächtig) fühlen, dann gehen
sie den Starken (oder Mächtigen) nicht mehr auf die Nerven und sie gewinnen selbst trostlosen
Lebensbedingungen befriedigende oder gar bereichernde Erfahrungen ab. Fach fasst zusammen: Eine
Politik der Härte „verschlankt“ den Staat, „vermarktet“ die Gesellschaft und „ermächtigt“ das
Individuum.
Fallbeispiel II: Prostitution
Bei Betrachtung der Prostitution, ergibt sich global überall
das gleiche Bild: Die durchschnittliche prostituierte Person ist weiblich, kommt aus einer
ethnischen Minderheit und ist arm. In Augsburg konnte jüngst bei einer Polizeikontrolle keine einzige
deutsche Frau in den Bordellen ausfindig gemacht werden. Mehr als 90% der prostituierten Frauen in
Frankfurt sind ebenfalls Migrantinnen. Was in Deutschland die Roma sind, sind in Kanada die
indigenen Frauen oder in Australien die Maori-Frauen oder Philippininnen. So genannte Freierforen
sind voll mit rassistischen Beleidigungen gegenüber den benutzten Frauen (z.B. „Rumänenschlampe“,
„Bulgarennutte“, ...), sowie Schilderungen von Vergewaltigungen oder
vergewaltigungsähnlichen Grenzüberschreitungen. Die Drogen- oder Alkoholsucht, die „Verbrauchtheit“ oder die schlechte
körperliche und psychische Verfassung der betroffenen Frauen sind wiederkehrende Themen
(was jedoch keinen Sexkäufer veranlasst vom Sexkauf abzusehen).
Diese Frauen spielen im öffentlichen Diskurs jedoch kaum
eine Rolle. Hier dominiert die weiße, privilegierte Akademikerin, die in den Talkshows und
Zeitungsinterviews das Bild der „freiwilligen“ und „selbstbestimmten“ „Sexarbeiterin“ zeichnet.
Eine Diskursanalyse
Wir erinnern uns: Um ökonomische Ausbeutung zu rechtfertigen
muss Arbeitskraft zunächst als Arbeitskraft konstituiert werden. Aus Prostitution wird hier
„Sexarbeit“, „ein Beruf wie jeder andere“ oder „das älteste Gewerbe der Welt“.
Fast alle PolitikerInnen, inklusive der der Linken, tun
gerade so, als sei die Sexindustrie ein Ort der Frauenbefreiung. Eine Analyse der Machtstrukturen findet
nicht statt. So antworteten Abgeordnete auf eine Anfrage einer prostitutionskritischen Initiative: „Es
gibt viele Frauen, die aus eigener Entscheidung in der Sexindustrie arbeiten.“ Oder: „Als eine
grundlegende Unterscheidung zu Ihrer Position sehe ich die tatsächliche Anerkennung von sexueller
Selbstbestimmung und damit zusammenhängend dem Zugeständnis einer freiwilligen
Entscheidung für einen Beruf in der Sexarbeit.“ Sehr beliebt ist der Appell „Zwangsprostitution
von freier Prostitution“ zu unterscheiden.
Auch Institutionen wie die Deutsche Aidshilfe, Amnesty International oder der Deutsche JuristInnenbund, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen, folgen der gleichen Argumentation. So schrieb die Deutsche Aidshilfe: „Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter entscheiden sich selbstbestimmt für diese Tätigkeit. Selbst wenn sie in prekären Situationen leben, sind die handelnde Subjekte und nicht gehandelte Objekte.“ Selbst Feministinnen stimmen in den Chor mit ein. Obwohl auch sie teilweise durchaus klassistische und rassistische Diskriminierungsstrukturen erkennen, argumentieren sie mit der „freien Wahl“. So schrieb die Bloggerin Antje Schrupp: „Sie [die prostituierten Personen] wählen diese Tätigkeit, weil es angesichts ihrer konkreten Lebenssituationen die am wenigsten schlechteste ist - weil sie zum Beispiel kaum andere Möglichkeiten haben, für sich und ihre Kinder an Geld zu kommen“. Stephanie Lohaus vom Missy Magazine spekuliert: „Vielleicht fühlt es sich aus der Perspektive einer Romafrau, die im Elend lebt und rassistisch verfolgt wird tatsächlich selbstbestimmt an, in Deutschland als Sexarbeiterin zu arbeiten?“. In der selben Zeitschrift wird schließlich postuliert: „...es wäre vielleicht besser, jenen, die weniger privilegiert sind als wir selbst zu
Auch Institutionen wie die Deutsche Aidshilfe, Amnesty International oder der Deutsche JuristInnenbund, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen, folgen der gleichen Argumentation. So schrieb die Deutsche Aidshilfe: „Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter entscheiden sich selbstbestimmt für diese Tätigkeit. Selbst wenn sie in prekären Situationen leben, sind die handelnde Subjekte und nicht gehandelte Objekte.“ Selbst Feministinnen stimmen in den Chor mit ein. Obwohl auch sie teilweise durchaus klassistische und rassistische Diskriminierungsstrukturen erkennen, argumentieren sie mit der „freien Wahl“. So schrieb die Bloggerin Antje Schrupp: „Sie [die prostituierten Personen] wählen diese Tätigkeit, weil es angesichts ihrer konkreten Lebenssituationen die am wenigsten schlechteste ist - weil sie zum Beispiel kaum andere Möglichkeiten haben, für sich und ihre Kinder an Geld zu kommen“. Stephanie Lohaus vom Missy Magazine spekuliert: „Vielleicht fühlt es sich aus der Perspektive einer Romafrau, die im Elend lebt und rassistisch verfolgt wird tatsächlich selbstbestimmt an, in Deutschland als Sexarbeiterin zu arbeiten?“. In der selben Zeitschrift wird schließlich postuliert: „...es wäre vielleicht besser, jenen, die weniger privilegiert sind als wir selbst zu
überlassen, wo die Grenzen ihrer Menschenwürde verlaufen.“
Die Verteidigung einer vermeintlich „freien Wahl“ geht selbst soweit den Universalismus von Menschenwürde und Menschenrechten aufzuheben und zu einer Angelegenheit zu machen, die individuell definiert werden soll. Auch der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen, ein Lobbyverband in dem auch Bordellbetreiberinnen Mitglied werden können, argumentiert so: „Bulgarische und rumänische "Armutsprostituierte" arbeiten hier im Rahmen ihrer EU-Freizügigkeit völlig legal zu besseren Löhnen als zuhause“ (Carmen Amicitiae). Sprecherin Johanna Weber kommentiert eine Zeitungsmeldung mit dem Titel „Hartz IV - Verschärfungen für Alleinerziehende“ wie folgt: „Na, da werden sicher viele Neue in die Sexarbeit einsteigen... Wir vom Berufsverband können uns ja schon Mal Gedanken machen über Einstiegshilfen :-)“. Auch auf Seiten der Freier ist sehr wohl ein Bewusstsein dafür da, dass sehr viele der Frauen sich aus ökonomischer Not prostituieren, diese sei jedoch „ein strukturelles Problem, kein Problem des Freiers. Der ist schließlich kein Wohltätigkeitsunternehmen“.
Die Verteidigung einer vermeintlich „freien Wahl“ geht selbst soweit den Universalismus von Menschenwürde und Menschenrechten aufzuheben und zu einer Angelegenheit zu machen, die individuell definiert werden soll. Auch der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen, ein Lobbyverband in dem auch Bordellbetreiberinnen Mitglied werden können, argumentiert so: „Bulgarische und rumänische "Armutsprostituierte" arbeiten hier im Rahmen ihrer EU-Freizügigkeit völlig legal zu besseren Löhnen als zuhause“ (Carmen Amicitiae). Sprecherin Johanna Weber kommentiert eine Zeitungsmeldung mit dem Titel „Hartz IV - Verschärfungen für Alleinerziehende“ wie folgt: „Na, da werden sicher viele Neue in die Sexarbeit einsteigen... Wir vom Berufsverband können uns ja schon Mal Gedanken machen über Einstiegshilfen :-)“. Auch auf Seiten der Freier ist sehr wohl ein Bewusstsein dafür da, dass sehr viele der Frauen sich aus ökonomischer Not prostituieren, diese sei jedoch „ein strukturelles Problem, kein Problem des Freiers. Der ist schließlich kein Wohltätigkeitsunternehmen“.
Unter diesem Blickwinkel ist es offenbar keine Option,
gesellschaftliche Bedingungen einzufordern, die Menschen ein Leben ermöglichen, welches nicht von
ökonomischen Zwängen bestimmt wird, sondern verteidigt wird das Recht auf die „freie Wahl“, egal
wie unfrei eine so „gewählte“ Tätigkeit getroffen sein mag. Der Vermittlung in die Prostitution
durch Jobcenter wurde durch das Bundessozialgericht ein Riegel vorgeschoben. Begründung:
Prostitution sei mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Dies bestätigt die These, dass aus
Handlungsoptionen leicht Entscheidungszumutungen werden (können), wenn keine
juristischen (oder andere) Grenzen gesetzt werden.
Fazit
Die gewählten Beispiele scheinen die Thesen von Foucault und
den governmentality Studies zu stützen. Es macht sehr viel Sinn, die jeweiligen
Machtverhältnisse in die Analyse von individuellen Entscheidungen mit einzubeziehen. Das subjektive Gefühl von
Freiheit und Selbstbestimmung muss objektiv betrachtet nicht mit der Realität übereinstimmen.
Verwendete Literatur:
Bröckling, Krasmann und Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität
der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Suhrkamp, Frankfurt, 2000