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Mittwoch, 21. November 2012

Sozialleistungen für alle EU-Bürger_innen durchsetzen!


Ich habe in den letzten Wochen sehr wenig gebloggt. Hintergrund ist unter anderem, dass ich im Rahmen meiner ehrenamtlichen Beratungstätigkeit bei der Linken Hilfe Wiesbaden seit Mai einige Familien dabei unterstütze ihr Recht auf Sozialleistungen einzuklagen: Ein Unterfangen welches dank der deutschen Bürokratie viel Zeit und Kraft kostet.

Die Situation:
Die Frage ob europäische Staatsangehörige ein Anrecht auf Leistungen nach dem SGB II/SGB XII haben beschäftigt seit Monaten die Gerichte. Hintergrund ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II: Die Bundesregierung ist der Meinung ein Anrecht besteht nur dann wenn Menschen ein abhängiges oder selbstständiges Arbeitsverhältnis mit eigenem Einkommen ab 300 Euro vorweisen können.

Betroffen sind insbesondere ökonomische Flüchtlinge aus Südeuropa (Griechenland, Portugal, Spanien) und Osteuropa (Rumänien und Bulgarien). Deutschland trägt eine Mitverantwortung für die Entwicklung in den genannten Ländern, sind sie doch allesamt durch das Diktat der Troika zu "Sparmaßnahmen" verdonnert, die den letzten Rest eines evtl. noch vorhandenen Sozialstaats zerstören.

Menschen aus Rumänien und Bulgarien sind doppelt betroffen, da ihnen noch bis 2014 der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist. Ein potentieller Arbeitgeber muss sich deren Beschäftigung zunächst von der Bundesagentur für Arbeit erlauben lassen - in den allermeisten Fällen erfolgt diese Erlaubnis nicht: Vorrang haben Deutsche oder Menschen, die keinen nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Da ist es unerheblich wie verzweifelt Arbeitgeber in manchen Branchen kurzfristig nach Arbeiter_innen suchen: Potentiell könnte eben auch jemand anders die Arbeit verrichten.

Die Situation vor der viele Menschen stehen sieht dann so aus: Keine Arbeit, keine Sozialleistungen, keine Wohnung oder nur kurzfristig eine Wohnung, bei der so lange Mietschulden auflaufen bis der Vermieter eine Räumungsklage angestrengt und durchgesetzt hat. Jetzt könnte mensch sagen "Die armen Vermieter, die können ja auch nicht anders, die brauchen ja auch ihre Mieteinnahmen" - Das ist in manchen Fällen auch berechtigt, in den meisten sieht es jedoch so aus, dass kriminelle Vermieter_innen sich an der Situation der Betroffenen gnadenlos bereichern. Wer es nicht glaubt kann es zum Beispiel hier nachlesen. (klick) Dieses "Geschäftsmodell" findet sich in vielen Städten, leider auch in Wiesbaden: Heruntergekommene Wohnungen werden zu Wucherpreisen an Menschen vermietet, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance haben und für den sozialen Wohnungsmarkt gar nicht erst registriert werden, weil dafür bedarf es ja einem Sozialhilfebescheid.

Exkurs: Viele der betroffenen Familien aus Rumänien und Bulgarien sind Roma-Familien. Sie werden in ihren "Heimatländern" diskriminiert und sind noch einmal extremerer Armut ausgesetzt als ihre Mitbürger_innen. Auch in Deutschland sind Roma nach wie vor extremen Diskriminierungen ausgesetzt. Antiziganistische Einstellungen sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Angesichts der Massenvernichtung an Sinti und Roma im zweiten Weltkrieg hat Deutschland eine besondere Verantwortung für diese Minderheit. 

Der Leistungsausschluss nach §7 SGB II verstösst nach Meinung der damit befassten Gerichte (mit sehr wenigen Ausnahmen) und der Literatur. Auch das LSG Hessen hat wiederholt betont, dass nationales Recht hier unzulässigerweise gegen EU-Recht ( VO (EG) 883/2004 und die Charta der Grundrechte (GRC)) verstößt. EU-Recht ist höherrangig als nationales Recht - damit ist nationales Recht ungültig und den Menschen stehen die Leistungen schlicht und einfach zu. (Näheres zu den LSG-Urteilen hier klicken)

Bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung in dieser Angelegenheit (so was dauert in der Regel Jahre) bleibt den Betroffenen nur eine Möglichkeit: Sie müssen ihre Rechte individuell einklagen. Dies ist ein langer und mühsamer Weg, den ich aufgrund zahlreicher Anfragen aus der ganzen Republik nachfolgend kurz beschreiben möchte - ein kleines "How To" sozusagen. Möge es vielen Menschen helfen!

  1. Die Voraussetzung für den Zugang zu Leistungen ist der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland. Das heißt wer hier wohnt und lebt, dessen Kinder hier zur Schule gehen, usw. erfüllt dieses entscheidene Kriterium. Mit einem Mietvertrag/Untermietvertrag/Mietbescheinigung in der Hand erhalten die Betroffenen bei der Einwohnermeldebehörde ihre Freizügigkeitsbescheinigung. Mit diesem Stück Papier sind keine Rechte verbunden, sie hat einen rein deklaratorischen Charakter. Sie gilt aber als Nachweis über den gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD und wird von den Sozialbehörden eingefordert. Über die Zulässigkeit dieses Vorgehens lässt sich streiten, aber wir lassen es mal dahingestellt.
  2. Es muss ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei den zuständigen Behörden gestellt werden (kommunales Jobcenter) Hier ergibt sich die zweite Hürde: Viele werden bei der persönlichen Vorsprache bereits weggeschickt, weil angeblich kein Anspruch bestünde, und kommen nicht einmal dazu einen Antrag zu stellen. Deshalb empfiehlt sich ein formloser Antrag "Hiermit beantrage ich Leistungen nach dem SGB II, weil ich nicht in der Lage bin meinen Lebensunterhalt selbst sicherzustellen. Bitte schicken Sie mir die erforderlichen Unterlagen zu." Dieser sollte per Einschreiben oder Fax an die Behörde geschickt werden, damit auch später noch belegt werden kann wann das Datum der Antragstellung war. Ab hier besteht rückwirkend zum ersten des Monats der Anspruch.
  3. Die dritte Hürde ist alle verlangten Unterlagen möglichst schnell und vollständig einzureichen, damit es zeitnah zu einem Ablehnungsbescheid kommt (Mir ist noch kein Jobcenter bekannt welches Leistungen bewilligt, es sei denn ein Kind ist in Deutschland geboren, dann hat mensch manchmal Glück!).
  4. Da Sozialleistungen laut Gesetz zeitnah zu bewilligen sind kann nach zwei Wochen bereits ein Eilantrag beim zuständigen Sozialgericht gestellt werden. (Muster siehe unten)
  5. Das Sozialgericht wird zunächst eine Stellungnahme beim kommunalen Jobcenter einholen, auf den der/die Betroffene schriftlich Stellung nehmen kann. Dann wird das Sozialgericht einen Beschluss fassen der bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorläufig gelten soll und dort bestätigt oder revidiert werden kann: Entweder zugunsten der Betroffenen, oder zuungunsten der Betroffenen. Im ersten Fall kommt es nun bereits zu einer vorläufigen Auszahlung von Leistungen rückwirkend bis zum Datum des Antrags auf einstweilige Anordnung beim Gericht. Im zweiten Fall ist eine Beschwerde beim jeweiligen Landessozialgericht nötig. Beschwerde kann auch das jeweilige Jobcenter einreichen, wenn zu deren Ungunsten entschieden wurde. Wenn es einen Beschluss zugunsten der Betroffenen gibt ist eine weitere große Hürde geschafft. Achtung: Es kann sein, dass der Beschluss keine Krankenversicherung oder Übernahme von Mietschulden umfasst. Sollte es hier dringenden Handlungsbedarf geben unbedingt im Antrag darauf hinweisen. Der Begriff "Eilverfahren" täuscht manchmal: Das kann durchaus auch 2-3 Monate dauern.
  6. Sobald es einen Ablehnungsbescheid des kommunalen Jobcenters gibt, muss gegen diesen zwingend mit der gleichen Begründung wie im Eilverfahren Widerspruch eingelegt werden. Nun laufen zwei parallele Verfahren, das Eilverfahren um kurzfristig die Existenzsicherung sicherzustellen, das Widerspruchs-(und später Klageverfahren) um eine grundsätzliche Entscheidung zu erhalten.
  7. Zu dem eingereichten Widerspruch wird es früher oder später einen Widerspruchsbescheid geben - gegen diesen kann dann endlich Klage beim Sozialgericht eingereicht werden. Damit ist das Hauptsacheverfahren eröffnet. Es kann mehrere Monate dauern bis ein Beschluss im Hauptsacheverfahren vorliegt. Deshalb ist das einstweilige Anordnungsverfahren dringend notwendig um in der Zwischenzeit den Lebensunterhalt der Betroffenen zu sichern.
  8. Wenn ein endgültiger Beschluss zugunsten der Betroffenen im Hauptsacheverfahren vorliegt, gegen den keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können (Sozialgericht - Landessozialgericht - Bundessozialgericht - Europäischer Gerichtshof / meistens ist nach dem Landessozialgericht Schluss weil die Jobcenter endlich Ruhe geben) ist die Sache durch, die mühsame Arbeit getan.
  9.  Wenn man Pech hat komm nun die Ausländerbehörde ins Spiel und droht mit Aberkennung der Freizügigkeit. Das hat für den Aufenthalt wenig Folgen, da es rechtlich möglich ist auszureisen und sofort wieder einzureisen (Eine Einreisesperre kann nur verhängt werden, wenn eine "Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliegt" - deshalb Vorsicht wenn die Jobcenter versuchen Betroffene zur Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses zu verpflichten, dies ist unzulässig). Jedoch fängt dann der ganze "Spass" mit den Sozialleistungen wieder von vorne an und der 3-Monats-Leistungsausschluss kommt erneut zum Tragen. Deshalb: parallel immer auch um einen Arbeitnehmer_innenstatus bemühen (Nach EuGH: Jede Tätigkeit, die einen wöchentlichen Umfang von mindestens 5,5 Stunden hat, für die die Person Weisungen erhält (Arbeitsvertrag vorteilhaft) und für die sie eine Vergütung erhält (mindestens 100 Euro)). Maßnahmen beim Jobcenter mit Mehraufwandsentschädigung ("Ein-Euro-Jobs") oder Praktika zählen auch, Integrationskurse oder Bewerbungstrainings der Definition nach nicht.  
Hinweis: Im Sozialgerichtsverfahren braucht es auf Ebene der Sozial- und Landessozialgerichte nicht zwingend die Begleitung durch eine_n Anwält_in!

Zur Einschätzung: In den insgesamt inzwischen zehn Verfahren die ich seit Mai begleite befinden wir uns zwischen 4 und 6. Fast alle Anträge wurden zeitgleich eingereicht. Es hängt also viel auch vom/von der zuständigen Sachbearbeiter_in ab wie schnell es einen Ablehnungsbescheid gibt. Hier hilft manchmal nur drängeln.
 

Viel Erfolg! Im Zweifelsfall hilft sicher eine Beratungsstelle in der Nähe. Adressen hier (klick)

Meine Fraktion hat einen Antrag in die Stadtverordnetenversammlung (Sitzung 22. Nocember 2012) eingereicht, der es den Betroffenen erleichtern könnte (klick hier) - angenommen wird er wahrscheinlich nicht, aber hoffen tun wir dennoch.


Literatur und Materialien:
Georg Classen (Berlin) hat die wichtigsten Infos zum Thema gesammelt und zusammengefasst. Sehr hilfreiches Argumentationsmaterial (klick) und hier viele Urteile (klick)

Eilantrag Sozialgericht (Muster - klick)
Widerspruch gegen Ablehnungsbescheid (Muster - klick)
Klage Sozialgericht (Muster - klick)


*Aktualisiert am 15. Dezember 2013 mit neueren Urteilen*



Alles Verbrecher!? - Verräterische Sprache


Letzte Woche machte die Nachricht die Runde, dass erstmals binnen eines Jahres mehr als eine Million Sanktionen von den bundesdeutschen Jobcentern gegen SGB-Leistungsberechtigte verhängt worden sind.

Auch bei uns in der Beratung häufen sich in den letzten Wochen die Sanktionsfälle. Offensichtlich muss zum Jahresende noch einmal heftig auf dem Rücken der Schwächsten gespart werden.
In diesem Zusammenhang hatte ich einige Amtsbegleitungen und auch wenn es keine neue Erkenntnis ist möchte ich das was einem im Hartz-System so alltäglich begegnet nochmal anschaulich vergegenwärtigen:

Wer arbeitslos wird und einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellt wird zunächst einmal einem "Profiling" unterzogen. In der Kriminalistik versteht mensch unter diesem Begriff die Erstellung eines Täterprofils durch einen so genannten "Profiler". Dieses "Profiling" soll eigentlich gemeinsam mit dem Betroffenen durchgeführt werden und erarbeitet werden was individuell zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist. In der Realität wird jedoch nichts gemeinsam erarbeitet, und es werden standardisierte Maßnahmen, die keinesfalls individuell erforderlich sind,  von oben diktiert.

Wer diese Maßnahme (von Vollzugs-maßnahme? - Danke an FK für den Hinweis!) ablehnt, nicht antritt oder mal unentschuldigt fehlt erhält eine Sanktion. Möglich sind 10%, 30%, 60% und 100%-Sanktionen (so genannte Totalsanktionen, bei denen für drei Monate auch keine Krankenversicherung und keine Miete mehr bezahlt werden). Im Recht bedeutet das Wort Sanktion so viel wie Bestrafung nach einer Straftat/einem Vergehen. Im Strafrecht dienen Sanktionen dazu, andere unter Abschreckung von Fehlverhalten abzumahnen.
Im Krieg werden Sanktionen, zum Beispiel Embargos, gegen Staaten verhängt - und damit nicht diejenigen bestraft, die vermeintlich getroffen werden sollen, sondern alle dort lebenden Menschen in Hunger und Elend gestürzt.

Bevor eine Sanktion vollstreckt werden darf hat der/die Betroffene die Möglichkeit, diese durch eine Anhörung abzuwenden, wenn er oder sie wichtige und überzeugende Gründe vorbringen kann wird kann der/die Fallmanagerin nach eigenem Ermessen von einer Sanktion absehen. Anhörung ist auch so ein toller Begriff, der aus dem Strafrecht bekannt ist. Bei einer mündlichen Anhörung wird eine Verhandlungsniederschrift erstellt - mensch muss sich vorkommen als befände er/sie sich im Jobcenter vor Gericht.

Wen wundert es dann wenn sich im Lebenslauf der/des ein oder anderen Fallmanager_in die Station "BKA" wiederfindet.

Sprache ist verräterisch - wenn Betroffene tagtäglich mit Begriffen aus der Kriminalistik/Strafgerichtsbarkeit malträtiert werden müssen wir doch davon ausgehen, dass der Staat sie als (potentielle) Verbrecher_innen ansieht. Wen wundert es da, dass sie auch als solche behandelt werden: Von ihren Fallmanager_innen, von den Medien, von der Bevölkerung?