Powered by Blogger.

Download

Mittwoch, 14. September 2016

Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit des Individuums im Neoliberalismus



Essay zu einem Vortrag bei Res Publica Politica in Alf / Mosel zum Thema Macht im Mai 2015


Im nachfolgenden Beitrag geht es um eine Anwendung der Gouvernementalitätstheorie von Michel Foucault auf zeitgenössische Phänomene. Anhand seines Machtverständnisses soll aufgezeigt werden, wie Individuen im Neoliberalismus zum einen durch Staat und Gesellschaft gelenkt werden und welche Selbsttechnologien andererseits zum Einsatz kommen. Daran anschließend ergibt sich die Frage, wie selbstbestimmt sie Entscheidungen treffen können und wie frei Entscheidungen im Neoliberalismus sein können.


Foucaults Machtbegriff

Während Max Weber von einem sehr formalistischen Machtbegriff ausging und Machtausübung als eine ungleiche Beziehung zwischen zwei Machtausübendem und Unterlegenem definierte, geht Foucault von sehr komplexen Machtstrukturen aus: Menschen sind in dynamische Netzwerke (Dispositive) eingebunden, die seiner Meinung nach sowohl repressiv als auch produktiv wirken können. „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht." Als Regierung bezeichnet er die "Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung". So muss es gar keine unmittelbare Machtausübung geben, sondern es reicht, gewisse Wahrscheinlichkeiten zu schaffen und die Lenkung von Individuen mit deren Selbstführung zu verknüpfen. Wenn es dem Machthabenden gelingt, seine Willensaufzwingung möglichst unsichtbar zu machen, sie in sanftere Formen zu gießen und sie durch Kontrolle, Gesetz und die Monopolisierung von Gewalt berechenbar erscheinen zu lassen, dann spricht Foucault von einer stabilen Sozialstruktur mit integrierten Zwangselementen. Wenn nicht einmal die Akteure eines Einflusses auszumachen sind und die Machtausübung sogar von Institutionen als Subjekten der Machtausübung losgekoppelt ist und "alle Ritzen und Winkel des sozialen Lebens durchdrungen hat" ist die reine Sozialstruktur erreicht.

Die governmentality studies, die auf Foucaults Vorlesung am Collège de France 1977/1978 Bezug nehmen, sehen Neoliberalismus nicht nur als eine ideologische Rhetorik oder eine politökonomische Realität an, sondern als ein politisches Projekt, das darauf abzielt, eine bestimmte soziale Realität herzustellen. Die häufig angenommene Trennung von Staat und Ökonomie ist in der Praxis nicht haltbar, beide sind miteinander eng verwoben. Eine zentrale These der govermentality studies lautet, dass um Menschen ökonomisch auszubeuten, zunächst ihre Körper politisch besetzt werden müssen und Arbeitskraft als Arbeitskraft konstituiert werden muss.

Selbsttechnologien

Das Handeln von Individuen kann auf einer Skala zwischen direktem und unmittelbarem Zwang auf der einen Seite und impliziter Zustimmung – Konsens – eingeordnet werden. Konsens bedeutet erst einmal nicht mehr, als dass dem Handeln einer anderen Person/anderer Personen vom Gegenüber Legitimität zugeschrieben wird. Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass es sich um eine freiwillige Handlung handelt, die auch ohne das Vorliegen eines Machtverhältnisses von der betroffenen Person ausgeführt worden wäre, denn: Für Foucault müssen auch konsensuelle Handlungen, Zustimmung und Einverständnis jeweils in Bezug auf Machtverhältnisse untersucht werden.

Einen besonderen Fokus legt Foucault auf so genannte Selbsttechnologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden können. Die grundsätzliche Logik dahinter ist die, dass bestimmte Handlungsoptionen gefördert werden, was früher oder später dazu führt, auch einen spezifischen Gebrauch von diesen Optionen, oder auch „Freiheiten“, zu machen. So wird aus einer Freiheit eine Entscheidungszumutung, bzw. ein faktischer Zwang zum Handeln. Wenn aber die Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens und einer freien Entscheidung erscheinen, bedeutet dies auch, dass sich die Individuen auch die möglichen und tatsächlichen Folgen ihres Handelns selbst zurechnen müssen. Für Regierungen bietet dies große Vorteile: Warum sollte es nötig sein, individuelle Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken, wenn es doch „ökonomischer“ ist, politische Ziele mittels „individueller Selbstverwirklichung“ realisieren zu lassen? Entscheidend für den Erfolg solcher Selbsttechnologien ist es eine „autonome“ Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild durchzusetzen und dass das Leben an ökonomische Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausgerichtet wird (was nicht nur auf Individuen beschränkt ist). Wie dies gelingt soll im Folgenden an zwei Fallbeispielen aufgezeigt werden.

Fallbeispiel I: Die Agenda 2010 und die Konstituierung von Armut als selbstverschuldetem Problem

Zunächst bietet sich eine historische Betrachtung an: In früheren Zeiten waren Individuen gegen Risiken wie Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit durch persönliche Netzwerke wie die Familie oder die Sippe abgesichert.

Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Karl Marx in seinem kommunistischen Manifest zwar eine brillante soziologische Gegenwartsanalyse seiner Zeit vorgelegt hat, jedoch in der Prognose der Zukunft (Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie durch den Klassenkampf) danebenlag. Man weiß jedoch nicht, ob er ohne die Einführung der Sozialversicherung, die als „Absicherung gegen Revolutionen“ konzipiert wurde, vielleicht doch Recht behalten hätte. Mit der Bismarck`schen Sozialversicherung wurde eine Art Klassenkompromiss zwischen Herrschenden und Beherrschten geschlossen. Kennzeichen des neuen Wohlfahrtsstaates war die Tatsache, dass den Individuen zwar persönliche Verantwortung für ihr Handeln zugestanden wurde, die jeweilige individuelle Verantwortung jedoch immer auch im Kontext äußerer Rahmenbedingungen betrachtet wurde, beispielsweise den Vor- und Nachteilen, die sich aus der Familienherkunft, der Klassenzugehörigkeit oder den lebensgeschichtlichen Umständen herleiten ließen. Staatliche Unterstützung war hier bereits sehr eng an Erwerbsarbeit gekoppelt: Die Armenfürsorge war so angelegt, dass sie nicht als attraktive Alternative zur Lohnarbeit wahrgenommen wurde. Kennzeichnendes Merkmal war die Solidarität zwischen "Risikoungleichen": Während sich die Versicherungsprämie am Einkommen oder Vermögen orientierte (nicht am Risiko), war für die Versicherungsleistung die Bedürftigkeit maßgeblich (nicht die gezahlte Prämie).

Mit der Agenda 2010 wurden die Probleme sozialer Ungleichheit wieder zurück in den Verantwortungsbereich der Betroffenen verlagert. Die Annahme lautet, dass sie durch aktives Handeln der Individuen abgewendet werden können. Diese werden deshalb verpflichtet, selbst aktive Zukunftssicherung zu betreiben. Auf der ökonomischen Ebene wurde der Boden bereitet für eine riesige Risikoindustrie, durch die mit Marketingstrategien bewusst Zukunftsängste geschürt werden: Es werden immer neue Probleme konstruiert und Lösungen gleich mitgeliefert. Wer nicht vorsorgt, dem werden Schuldgefühle vermittelt, zu wenig Eigeninitiative zur Absicherung vor drohenden Schicksalsschlägen zu zeigen oder bei tatsächlichem Eintreten gezeigt zu haben. Beispiele sind die private Krankenversicherung oder private Rentenversicherungsangebote. Gesellschaftlich wird es als zunehmend „ungerecht“ empfunden, sich solidarisch mit jenen zu zeigen, die ihr Schicksal selbst verschuldet haben. Das Individuum hat eine Bringschuld, sich darum zu bemühen, den Schaden für andere zu minimieren und jedeR EinzelneR gilt nun als Risikofaktor des anderen. Daraus entwickelt sich eine paternalistische Sorge darüber wie der/die Einzelne sein/ihr Leben führt. Aus der kollektiven Solidarität wurde so die Aktivierung und Anrufung von Arbeitslosen und Sozialhilfeberechtigten als aktive BürgerInnen und aus der kollektiven, solidaritätsbasierten Armutsbekämpfung eine Armutsbekämpfung durch Selbstsorge.

Im Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen von 1998 hieß es unter anderem: „Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen Staat. Deshalb werden wir die Bürokratie abbauen und den Staat zum Partner der Bürgerinnen und Bürger machen. Leitbild ist der aktivierende Staat. […] Wo Bürgerinnen und Bürger gesellschaftliche Aufgaben in Eigeninitiative und gesellschaftlichem Engagement lösen soll der Staat sich nicht an ihre Stelle setzen, sondern sie unterstützen“

Die rot-grüne Koalition suggerierte mit diesen Aussagen ein Durchbrechen der Machthierarchien. Aus
Regierenden und Regierten sollten PartnerInnen auf Augenhöhe werden. In der Folge traten und treten gemeinnützige Initiativen ebenso wie private und profitorientierte Organisationen an die Stelle wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und eine riesige „Fortbildungsindustrie“ macht, finanziert durch öffentliche Zuschüsse, die Menschen "fit für den Arbeitsmarkt". Durch „Empowerment“ sollen diese in ihrer Eigenaktivität unterstützt werden.

Die Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt formulierte unter anderem als Zielsetzung: „Dem Arbeitslosen werden Wahl- und Handlungsoptionen dargestellt, die ihn befähigen, Entscheidungen über seine Beschäftigungsperspektiven zu treffen. Die angebotenen Dienstleistungen setzen ihn in die Lage, selbst im Sinne des Integrationszieles tätig zu werden“

Im Zuge der Agenda 2010 wurde Armut zu einem „Verhalten“ umgedeutet, welches jeweils in der Verantwortung der Individuen liegt. Arbeit gilt hierbei als Schlüssel des Armutsproblems. Dabei werden die eigentlichen Ursachen von Armut nicht strukturell analysiert, sondern als Produkt der Fehlleistung einzelner, denen es am Willen zur Arbeit mangele. Denn: Wer individuell über die Mittel verfügt, Armut zu vermeiden, ist für ihr Eintreten jeweils selbst verantwortlich. Das alte Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ passt sehr gut in diesen Zusammenhang. Der Umkehrschluss lautet jedoch, dass jedeR der/die scheitert sich dies als persönliches Versagen anrechnen lassen muss. Am Ende stehen dann Aussagen wie die des damaligen Bundesarbeitsministers Franz Müntefering „Nur wer arbeitet, soll auch essen“. Wer sich nicht selbst um Arbeit kümmert, wird in Arbeit oder Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“) vermittelt. Jede Arbeit gilt nun als zumutbar.

Was dabei verschwiegen wird: Für eine hohe Beschäftigungsquote ist eine hohe Übereinstimmung von Arbeitsnachfrage und -angebot Voraussetzung. Mit der Agenda 2010 richtet man sich jedoch ausschließlich auf die Nachfrageseite und fordert die marktoptimale Anpassung der ArbeitnehmerInnen. Wenn jedoch auf rund 500.000 offene Stellen (Jahresdurchschnitt 2015) insgesamt 2,9 Millionen Menschen ohne Beschäftigung kommen (unter Einbeziehung der verdeckten Arbeitslosigkeit sogar 3,75 Millionen), dann bedeutet dies automatisch, dass sich 4,26 Millionen Menschen individuell anstrengen können wie sie wollen - sie werden dennoch keine Anstellung finden. Oder sie werden beispielsweise in prekäre, selbstständige Tätigkeiten getrieben, wie ich am nächsten Fallbeispiel zeigen möchte.

Empowerment - oder: die „Politik der Härte“

Wolfgang Fach argumentiert, dass im Neoliberalismus die Communites eine "Politik der Härte" generieren und Empowerment-Strategien zutiefst neoliberal sind.

Er beschreibt, wie die persönlichen Netzwerke, in denen jedes Individuum eingebunden ist (Familien, Schulen, Gemeinden, Nachbarschaften, ...), normierend, formierend und kontrollierend auf dieses einwirken und entscheidend sind für die Wirksamkeit der „Führung der Führungen“, also die Selbsttechnologien der Einzelnen. Er nennt sie deshalb die „block captains“ eines harten Lebens.

Die betroffenen Individuen tun sich schwer damit, ihre aktive (Selbst-)Kolonialisierung zu erkennen. Durch das Netzwerk, in dem sie sich befinden, wird der Systemcharakter verschleiert und am Ende geht "selbstbestimmtes" Verhalten in rollengerechtem Verhalten auf.

Empowerment-Strategien sind systemstabilisierend, weil sie das System nicht in Frage stellen, sondern das Individuum fit machen wollen, in diesem zurecht zu kommen oder in ihm überleben zu können. Überleben wird umdefiniert in „gutes Leben“ und Erfolg und Wohlergehen werden zu einer Frage des Kopfes: Man soll einfach gut finden, was man macht. Wenn sich die Schwachen (oder Machtunterlegenen) stark (oder mächtig) fühlen, dann gehen sie den Starken (oder Mächtigen) nicht mehr auf die Nerven und sie gewinnen selbst trostlosen Lebensbedingungen befriedigende oder gar bereichernde Erfahrungen ab. Fach fasst zusammen: Eine Politik der Härte „verschlankt“ den Staat, „vermarktet“ die Gesellschaft und „ermächtigt“ das Individuum.


Fallbeispiel II: Prostitution

Bei Betrachtung der Prostitution, ergibt sich global überall das gleiche Bild: Die durchschnittliche prostituierte Person ist weiblich, kommt aus einer ethnischen Minderheit und ist arm. In Augsburg konnte jüngst bei einer Polizeikontrolle keine einzige deutsche Frau in den Bordellen ausfindig gemacht werden. Mehr als 90% der prostituierten Frauen in Frankfurt sind ebenfalls Migrantinnen. Was in Deutschland die Roma sind, sind in Kanada die indigenen Frauen oder in Australien die Maori-Frauen oder Philippininnen. So genannte Freierforen sind voll mit rassistischen Beleidigungen gegenüber den benutzten Frauen (z.B. „Rumänenschlampe“, „Bulgarennutte“, ...), sowie Schilderungen von Vergewaltigungen oder vergewaltigungsähnlichen Grenzüberschreitungen. Die Drogen- oder Alkoholsucht, die „Verbrauchtheit“ oder die schlechte körperliche und psychische Verfassung der betroffenen Frauen sind wiederkehrende Themen (was jedoch keinen Sexkäufer veranlasst vom Sexkauf abzusehen).

Diese Frauen spielen im öffentlichen Diskurs jedoch kaum eine Rolle. Hier dominiert die weiße, privilegierte Akademikerin, die in den Talkshows und Zeitungsinterviews das Bild der „freiwilligen“ und „selbstbestimmten“ „Sexarbeiterin“ zeichnet.

Eine Diskursanalyse

Wir erinnern uns: Um ökonomische Ausbeutung zu rechtfertigen muss Arbeitskraft zunächst als Arbeitskraft konstituiert werden. Aus Prostitution wird hier „Sexarbeit“, „ein Beruf wie jeder andere“ oder „das älteste Gewerbe der Welt“.

Fast alle PolitikerInnen, inklusive der der Linken, tun gerade so, als sei die Sexindustrie ein Ort der Frauenbefreiung. Eine Analyse der Machtstrukturen findet nicht statt. So antworteten Abgeordnete auf eine Anfrage einer prostitutionskritischen Initiative: „Es gibt viele Frauen, die aus eigener Entscheidung in der Sexindustrie arbeiten.“ Oder: „Als eine grundlegende Unterscheidung zu Ihrer Position sehe ich die tatsächliche Anerkennung von sexueller Selbstbestimmung und damit zusammenhängend dem Zugeständnis einer freiwilligen Entscheidung für einen Beruf in der Sexarbeit.“ Sehr beliebt ist der Appell „Zwangsprostitution von freier Prostitution“ zu unterscheiden.

Auch Institutionen wie die Deutsche Aidshilfe, Amnesty International oder der Deutsche JuristInnenbund, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen, folgen der gleichen Argumentation. So schrieb die Deutsche Aidshilfe: „Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter entscheiden sich selbstbestimmt für diese Tätigkeit. Selbst wenn sie in prekären Situationen leben, sind die handelnde Subjekte und nicht gehandelte Objekte.“ Selbst Feministinnen stimmen in den Chor mit ein. Obwohl auch sie teilweise durchaus klassistische und rassistische Diskriminierungsstrukturen erkennen, argumentieren sie mit der „freien Wahl“. So schrieb die Bloggerin Antje Schrupp: „Sie [die prostituierten Personen] wählen diese Tätigkeit, weil es angesichts ihrer konkreten Lebenssituationen die am wenigsten schlechteste ist - weil sie zum Beispiel kaum andere Möglichkeiten haben, für sich und ihre Kinder an Geld zu kommen“. Stephanie Lohaus vom Missy Magazine spekuliert: „Vielleicht fühlt es sich aus der Perspektive einer Romafrau, die im Elend lebt und rassistisch verfolgt wird tatsächlich selbstbestimmt an, in Deutschland als Sexarbeiterin zu arbeiten?“. In der selben Zeitschrift wird schließlich postuliert: „...es wäre vielleicht besser, jenen, die weniger privilegiert sind als wir selbst zu
überlassen, wo die Grenzen ihrer Menschenwürde verlaufen.“

Die Verteidigung einer vermeintlich „freien Wahl“ geht selbst soweit den Universalismus von Menschenwürde und Menschenrechten aufzuheben und zu einer Angelegenheit zu machen, die individuell definiert werden soll. Auch der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen, ein Lobbyverband in dem auch Bordellbetreiberinnen Mitglied werden können, argumentiert so: „Bulgarische und rumänische "Armutsprostituierte" arbeiten hier im Rahmen ihrer EU-Freizügigkeit völlig legal zu besseren Löhnen als zuhause“ (Carmen Amicitiae). Sprecherin Johanna Weber kommentiert eine Zeitungsmeldung mit dem Titel „Hartz IV - Verschärfungen für Alleinerziehende“ wie folgt: „Na, da werden sicher viele Neue in die Sexarbeit einsteigen... Wir vom Berufsverband können uns ja schon Mal Gedanken machen über Einstiegshilfen :-)“. Auch auf Seiten der Freier ist sehr wohl ein Bewusstsein dafür da, dass sehr viele der Frauen sich aus ökonomischer Not prostituieren, diese sei jedoch „ein strukturelles Problem, kein Problem des Freiers. Der ist schließlich kein Wohltätigkeitsunternehmen“.

Unter diesem Blickwinkel ist es offenbar keine Option, gesellschaftliche Bedingungen einzufordern, die Menschen ein Leben ermöglichen, welches nicht von ökonomischen Zwängen bestimmt wird, sondern verteidigt wird das Recht auf die „freie Wahl“, egal wie unfrei eine so „gewählte“ Tätigkeit getroffen sein mag. Der Vermittlung in die Prostitution durch Jobcenter wurde durch das Bundessozialgericht ein Riegel vorgeschoben. Begründung: Prostitution sei mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Dies bestätigt die These, dass aus Handlungsoptionen leicht Entscheidungszumutungen werden (können), wenn keine juristischen (oder andere) Grenzen gesetzt werden.


Fazit

Die gewählten Beispiele scheinen die Thesen von Foucault und den governmentality Studies zu stützen. Es macht sehr viel Sinn, die jeweiligen Machtverhältnisse in die Analyse von individuellen Entscheidungen mit einzubeziehen. Das subjektive Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung muss objektiv betrachtet nicht mit der Realität übereinstimmen.


Verwendete Literatur:

Bröckling, Krasmann und Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Suhrkamp, Frankfurt, 2000


Mittwoch, 20. April 2016

Das Nordische Modell - Über Mythen, blinde Flecken und Realität


Beschäftigt man sich mit dem Thema Prostitution stößt man relativ schnell auf das so genannte Nordische Modell - und divergierenden Bewertungen dessen. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft werden Behauptungen über die Wirksamkeit des Prostitutionsgesetzes aufgestellt, die keiner kritischen Betrachtung standhalten. Dieser Beitrag soll dazu dienen, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Dies ist umso notwendiger, als durch die Überlegungen zur Übernahme des Modells in zahlreichen europäischen Staaten und die Resolution des Europaparlaments für ein Sexkaufverbot nach Schwedischem Modell, die Desinformationskampagnen nochmal einen Schub bekommen haben.


Legalisierende Gesetzgebung: Ziel und Wirkung

"Deutschland ist die Hölle auf Erden für die prostituierte Klasse" (Rebecca Mott[i], Prostitutionsüberlebende)
Legalisierungsgesetze gab es 1998 in Österreich und Griechenland, 2000 in den Niederlanden und 2002 in Deutschland.

Ziel war es insgesamt die Sexindustrie zu kontrollieren, zu regulieren und Menschenhandel/Zwangsprostitution zurückzudrängen. Außerdem sollten Bedingungen für ein erleichtertes Einzahlen der Betroffenen in die Sozialkassen geschaffen werden. Argumentiert wurde mit erhöhter Sicherheit und besseren Bedingungen für Menschen, überwiegend Frauen, in der Prostitution. Die Etablierung von Prostitution als Erwerbstätigkeit und "Beruf wie jeder andere" hat nicht zur Stärkung der Betroffenen geführt, sondern zur Stärkung der Profiteur_innen - und füllt diesen die Taschen mit geschätzt 14,5 Milliarden Euro Jahresumsatz alleine in Deutschland. Von reichen Prostituierten/Sexarbeiterinnen ist übrigens nichts bekannt. (Im Gegenteil, Betroffene wie Domenica (die "Königin der Reeperbahn") berichten immer wieder, dass das "schmutzige Monopoly-Geld" so schnell wie möglich weg muss). Außerdem gibt es seit der Legalisierung einen Unterbietungswettbewerb mit Dumpinglöhnen und Druck auf immer mehr Sex ohne Kondom. Betroffene berichten von gravierender Ausbreitung von Tripper, Syphillis und anderen Geschlechts- und Infektionskrankheiten.

Prostitution, Consent und sexuelle Selbstbestimmung


In der Prostitutions-Drebatte  ärgere ich mich zunehmend darüber, dass ich über das Thema “Darf Mensch einem anderen Menschen Geld für seine eigene Befriedigung zahlen?” diskutieren möchte und stattdessenin Diskussionen rund um die Frage “Darf Mensch sich für die Befriedigung eines anderen Menschen Geld geben lassen?” verwickelt werde. . Dieser Text stellt einen Versuch dar, Prostitution im Kontext von Rape Culture bzw. dem – Consent-/Zustimmungskonzept zu diskutieren.

Rape Culture und sexuelle Selbstbestimmung

Mindestens jede dritte Frau erlebt im Laufe ihres Lebens Gewalt (körperliche, emotionale, sexuelle, etc.). Grenzüberschreitungen werden häufig bagatellisiert und heruntergespielt, Vergewaltigungsopfern wird misstraut oder sie werden verantwortlich gemacht für die Tat („sie hat einen kurzen Rock getragen“, „sie lebt promiskuitiv“, „sie hat aufreizend getanzt“, „sie wollte es doch auch“, etc.). Vor Gericht muss eine Frau, die sexuelle Gewalt erfahren hat, beweisen, dass sie sich in einer schutzlosen Lage befunden hat, d. h. Widerstand gegenüber dem Täter geleistet hat. Täter berufen sich vor Gericht oftmals darauf, dass sie den entgegenstehenden Willen des Opfers nicht erkennen konnten (anders als beispielsweise in Norwegen, wo es den Straftatbestand der grob fahrlässigen Vergewaltigung gibt, wenngleich es bisher kaum Urteile danach gibt. Der Ansatz ist jedoch vollkommen richtig und wichtig).



Prostitution, Postfeminismus und Neoliberalismus


Dieser Beitrag erschien erstmals am 4. April 2014 als Gastbeitrag im Internetblog "Die Freiheitsliebe"*

Je länger diese Prostitutionsdebatte andauert, umso mehr wundere ich mich über so manche Argumentation. Hier ein paar besondere Stilblüten: 

• Amnesty International London veröffentlicht ein Positionspapier und reklamiert ein Recht auf sexuelle Befriedigung jenseits konventioneller Möglichkeiten (Perspektivwechsel: vorher ging es immer um das Recht sich prostituieren zu dürfen)
• Eine Bordellbetreiberin propagiert ein Menschenrecht (Männerrecht?) auf Sex
• Auf einer Konferenz zu Sorgearbeit wird Sexarbeit unter “Care-Arbeit” subsumiert, in einer Reihe mit „Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen, Haushaltsarbeit“


Ein ganz gewöhnlicher Freitag? – Prostitution im Wiesbadener „Untergrund“


An den meisten anderen Tagen bewege ich mich überwiegend in meinem eigenen Kiez in Wiesbaden: Hier wohne ich, hier arbeite ich, hier gehe ich aus, hier gibt es (fast) alles, was man halt so braucht. Freitage sind (derzeit) jedoch anders. Denn freitags fahre ich immer zur Uni nach Mainz und freitags mache ich Einkäufe für meine Arbeit, überwiegend in den Wiesbadener Stadtteilen Biebrich und Kastel.

Durch meine Vor-Ort-Recherchen zu Prostitution in Wiesbaden weiß ich ziemlich genau, wo Prostitution in meiner Stadt stattfindet. Durch Lektüre in so genannten Freierforen weiß ich das leider besser, als ich es manchmal wissen will. Viele schlaflose oder unruhige Nächte habe ich deswegen schon verbracht. Wütend und traurig zugleich macht es mich, dass die Chancen etwas dagegen zu tun, nicht gleich Null, aber doch sehr eingeschränkt sind.

Sonntag, 7. Februar 2016

Linke FeministInnen in der Sackgasse?



«Ich bin es so ver­dammt leid. Ich bin es leid, mir diese MarxistInnen anzu­schauen, diese SozialistInnen, diese AnarchistInnen, diese ach so revo­lu­tio­nä­ren Leute, die Frauen da drau­ßen in der Kälte ste­hen las­sen. Ich bin es leid, dass sie in allen Fra­gen radi­kale Posi­tio­nen ein­neh­men, außer bezüg­lich der Sex­in­dus­trie. Denn wisst ihr, wir kön­nen die Welt ver­än­dern, wir kön­nen eine neue Gesell­schaft schaf­fen – eine, die fair ist, gerecht, frei und ega­li­tär – aber wir erhal­ten eine Klasse von Frauen für Blo­wjobs.» (Meg­han Mur­phy)

Die Kana­die­rin Meg­han Mur­phy spricht mir – und vie­len ande­ren – damit aus dem Her­zen. Noch nie zuvor habe ich mit Tei­len der deut­schen Lin­ken und der femi­nis­ti­schen Szene so sehr geha­dert wie in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der mil­li­ar­den­schwe­ren Sex­in­dus­trie. Mein Ver­ständ­nis von Femi­nis­mus ent­spricht dem der US-amerikanischen Femi­nis­tin Bar­bara Smith, die sagte: «Beim Femi­nis­mus geht es um die Befrei­ung aller Frauen, alles dar­un­ter ist kein Femi­nis­mus.» Oder um es mit Gail Dines zu sagen: «Neo­li­be­rale Femi­nis­tin­nen for­dern die Hälfte des Kuchens ein. Wir radi­ka­len Femi­nis­tin­nen wol­len gar nichts von die­sem ver­gif­te­ten Kuchen.» In mei­nen Augen muss sich die Linke ent­schei­den: Rich­ten wir uns gemüt­lich ein im Ultra­ka­pi­ta­lis­mus und for­dern ein paar Auf­sichts­rats– und Geschäfts­füh­re­rin­nen­pöst­chen hier und bes­sere indi­vi­du­elle Kar­rie­re­chan­cen dort, geben wir uns mit dem «Empower­ment» ein­zel­ner Frauen zufrie­den, oder neh­men wir end­lich den Kampf auf für die Befrei­ung aller Frauen, die in die­sem neo­li­be­ra­len Sys­tem in der Regel als erste unter die Räder kom­men? Ich meine mal ernst­haft: In einer Gesell­schaft, in der mehr als jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens Betrof­fene von irgend­ei­ner Form von Gewalt wird: Sind DAS wirk­lich unsere Prio­ri­tä­ten als linke Femi­nis­tin­nen? Ist es nicht Zeit unse­ren Fokus neu zu schär­fen?